Die Aussicht auf den Wustrauer Campingplatz hat mich heute beflügelt - anders wäre ich wohl auch nicht durchgekommen.
Der Morgen ist mal wieder verregnet, aber sobald ich auf dem Weg bin, hält der Himmel dicht. Ich schlage mich durch den Wustrauer Luch, der durchkreuzt ist von Wegen, die alle nicht beschildert sind. Unter der dichten Wolkendecke, zwischen faulenden Bäumen und insektenbeherbergenden Gräben fühle ich mich verunsichert. Keine Menschenseele weit und breit - was ist, wenn ich den falschen Weg einschlage?
Als sich zu meiner Rechten endlich der E10 auftut, der mich so schnell wie möglich zur Landstraße bringen soll, stellt sich dieser als völlig überwucherter Trampelpfad heraus - Nein, danke, bevor ich mich erneut dem Ansturm der Bremsen ausliefere, um dann irgendwo mitten in der Pampa zu stehen, bleibe ich lieber noch ein bisschen mutterseelenallein im Luch.
Selbst Rehe habe ich hier noch nicht gesehen, alles wirkt wie ausgestorben. Als sich der dunkle Punkt weit vorne als Mensch herausstellt, weiß ich aber nicht, ob ich mich freuen soll - wer weiß, was das für einer ist? Auch er bleibt vorsichtig und hält den Abstand zwischen uns ziemlich konstant bei ein paar Hundert Metern. Nach einer Weile biegt er vom Weg ab - vielleicht will er dort auf mich warten, um... Unsinn! Die Menschen machen mich noch paranoid: Gestern sprach mich ein älteres Ehepaar auf dem Weg nach Linum an, ob ich ganz alleine unterwegs sei und was meine Familie dazu sagt. Und auch Schwester Anneliese meinte, es könne nicht Gottes Wille sein, dass ich diesen Weg allein gehe - und jetzt seh ich selbst schon Gespenster!
Der Mann taucht - immer noch in weiter Entfernung - wieder auf dem Weg auf. Er hatte in der Einmündung offensichtlich sein Fahrrad abgestellt, mit dem er nun Richtung Norden - fort von mir - fährt.
Ein paar Hundert Meter weiter gabelt sich der Weg. Der Mann hat die linke Abzweigung genommen, während ich nach rechts muss, um die Landstraße und schließlich Wustrau zu erreichen. Zumindest glaube ich, dass ich rechts abbiegen muss, allerdings laufe ich schon seit ein paar Kilometern nur noch nach Himmelsrichtung.
Als ich mich mit ein paar Schlucken Wasser auf die hoffentlich letzten Kilometer Einsamkeit vorbereite, kommt der Radfahrer wieder vorbei. Im gemächlichen Vorbeifahren versichert er mir, dass der Weg tatsächlich nach Wustrau führt - ausgezeichnet! So stapfe ich weiter vor mich hin. Ohne Pause, denn ich habe den Verdacht, dass die Kaufhalle in Wustrau - sofern es eine gibt - am Samstag nicht besonders lange geöffnet hat. Mit dem Kompass die ungefähre Uhrzeit festzustellen ist bei diesem wolkenverhangenen Himmel nicht möglich und in der Einöde habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Also weiterweiterweiter. Bis schließlich - "Autos! Ich sehe Autos!", vielleicht doch besser, dass ich allein gehe, das erspart manche Peinlichkeit. Als ich endlich die Landstraße betrete, kann ich das Ortsschild von Wustrau schon sehen.
Ich erkundige mich nach einer Kaufhalle und - Gott sei Dank! - es gibt eine! Da es erst halb elf ist, hat sie sogar noch offen. Der Mann, der mir diese großartige Mitteilung macht, hat noch ein paar warme Worte für mich und Wegbeschreibung zu Campingplatz und Badestelle. Eine wahr Goldgrube!
Ich kaufe, was zu kaufen ist und setze mich auf die nächstbeste Bank. Geschafft. Tagesziel erreicht. Und das noch vor elf. Sobald ich mich wieder bewegen kann, suche ich den Campingplatz und darf dort für 5,25€ übernachten, duschen und Wäsche waschen - es ist himmlisch! Ich baue das Zelt zum Trocknen auf, verschiebe die Dusche aber zu Gunsten einiger Telefonate und einer Dorfbesichtigung.
Die Kirche ist überraschend schön und weil ich Herrn Schmidt, der die offene Kirche betreut, irgendwie sympathisch bin, darf ich auch mal an die Orgel, die absolut grandios klingt. Ich genieße den Spaziergang durchs Dorf, so ganz ohne Gepäck. An der Badestelle schrubbe ich meine Füße mit Sand, bis sie wieder hautfarben sind, dann gehe ich duschen und benutze diese revolutionäre Erfindung - WC.
Jetzt ist es halb vier. Ich werde noch eine Runde durchs Dorf drehen und die morgige Route planen.
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